Tanz der Raumscheiben

Großnase lässt die durchsichtige Schlafkuppel öffnen und reibt sich die Augen. Gähnend richtet er seinen Oberkörper auf und blickt sich um. Sein Zwillingsbruder Blauhaar ist nicht zu sehen, dessen Schlafkapsel ist schon leer, typisch Frühaufsteher.

Der Sechzehnjährige aktiviert mit einem Gedanken die Frühstücksabfrage. Gemischter Salat mit Molekularsalami steht auf dem Essensplan, wie ihm in den Kopf gesendet wird. Er fasst zum Haltegriff, um in die Magnetschuhe vor seiner Schlafkapsel zu schlüpfen. Wiederholt gähnend streift er seinen blauen hautengen Schlafumhang glatt. Wie jeden Morgen versucht er den magnetischen Boden auszutricksen, aber seine Sensoren registrieren sofort, wenn er einen Schritt machen will und durch gesteuerte Magnetfeldabschwächung und –verstärkung im Wechsel gelingen die Schritte.

Seit er vor langer Zeit schon gelernt hat, dass auf den vielen Himmelskörpern da draußen eine so genannte Gravitationskraft dafür sorgt, dass man auf deren Oberflächen spazieren gehen kann, prüft er an Bord der Raumscheibe jeden Morgen, ob hier die Magnetfelder noch vorhanden sind. Diese bewirken, dass Schuhe und die getragene Kleidung immer in Richtung Boden ausgerichtet sind. Für einen Moment fragt er sich wieder, worin sich der Gang in der Gravitation vom Gang auf dem Magnetboden der Raumscheibe gefühlsmäßig unterscheiden mag.

Plötzlich zuckt Großnase zusammen – richtig, morgen fliegen sie einen Himmelskörper an, der sich „Planet“ nennt und einen kleinen Stern umkreist. Zum ersten Mal kann er an einem planetaren Treffen teilnehmen, denn dort kommen die Besatzungen vieler Raumscheiben zusammen. Verdammte innere Trägheit – sein Gesichtsausdruck wird mürrisch. Seit Wochen schon ist jener Tag bekannt, seit so langer Zeit schon hat er sich vorgenommen, fit zu sein, wenn die anderen Menschen seinem Raumscheibendorf gegenübertreten.

Dann werden sie sich wieder direkt austauschen – vis à vis. Er hat seine Bildungsaktivitäten in letzter Zeit immer wieder nur halbherzig bis gar nicht verfolgt und seine Fitness – darüber sollte man gar nicht sprechen. Auch wenn er mit seinen 1,28 Metern bereits zu den größten Menschen hier zählt, ist seine Plauze zu groß, laut beauftragter aktueller Laservermessung durch die Vorrichtung über seiner Schlafkapsel ist der Bauchumfang wieder über 80 Zentimeter – viel zu groß.

Er grübelt. Natürlich hat Blauhaar recht, er hätte sich früher auf das Treffen vorbereiten sollen, aber er muss immer wieder alles aufschieben, dazu gibt es einfach zu viele Gründe. Nun muss er anfangen! Nicht Großnase sollte er deshalb heißen, auch wenn seine Nase die größte seines Jahrgangs ist, sondern eher Immerinletzterminute, denn dies ist sein Markenzeichen in der gesamten Raumscheibe unter allen 100 Erwachsenen und 20 Minderjährigen, auch wenn er zu den ältesten unter letzteren gehört.

Sicher werden sie beim intergalaktischen Treffen wieder philosophieren, wie die Menschheit damals die Erde verlassen hat. Wie war das noch mal? Es hilft nichts, der neue Tag wird für ihn ein stressiger, intensiver werden. Aber er will morgen auf keinen Fall beim Treffen als Armleuchter dastehen, erst recht nicht vor den vielen noch fremden gleichaltrigen Mädchen. Vielleicht würde er dann sogar die Raumscheibe wechseln.

Also los! Damit beschließt er, seinen Tag mit etwas Morgensport zu beginnen. Schon schwebt die Umkleidekapsel von der Decke herab und er hebt die Arme. Sogleich wird der Schlafumhang nach oben gesogen und ein Trainingscape schwebt herab. Er schließt die Hosenbeine per Umlegen des Stoffs und prüft die integrierte Sensoreneinheit zur Überwachung seiner Körperfunktionen. Als die Umkleidekapsel wieder emporschwebt, tritt er auf das Schuhfach zu und schon werden ihm Laufschuhe entgegen geschoben. Mir ihrer Hilfe wird er nun auf der Raumscheibenrunde mehrfach entlang joggen. Hier wird ihm wieder die wechselnde Magnetfeldstärke zwischen den Schuhen und dem Boden das Laufen ermöglichen, ab morgen auf jenem Planeten soll es dann die Gravitationskraft auf dem Himmelskörper tun. Großnase tritt auf den Gang hinaus und begibt sich zum Außenring der Raumscheibe. Dieser Fitnessring wird ihm als Joggingrunde dienen. Während er durch den hellblauen Laufbereich seine Muskeln trainiert, gehen innerhalb des Rings die anderen über einhundert Menschen anderen morgendlichen Aktivitäten nach, denn noch immer kommt ihm niemand entgegen.

Der Jugendliche schnauft schon ein wenig, aber die Sensoren zeigen unerbittlich an, wie er weiter rennen muss, damit dies seinem Körper auch dienlich ist. Jetzt erreicht er einen von vier Aufstiegen in das Oberdeck der Raumscheibe. Wenn er jetzt bergauf rennen würde, wie es die Sensoren gerne hätten, würde er das Landwirtschaftsdeck erreichen. Doch ihn hat nie sonderlich interessiert, wie die Lebensmittel für die Menschen an Bord der Raumscheibe erzeugt werden. Pflanzenzucht ist langweilig und die Herstellung dieser durch Molekularwachstum entstehenden Fleischprodukte findet er abstoßend, denn es genügt Großnase, wenn ihm sein Essen schmeckt.

Jetzt erreicht er einen der vier Abstiege in das Unterdeck. Das findet er schon wesentlich interessanter, denn auf dieser untersten der drei Raumscheibenetagen befinden sich die ganze Antriebs- und Energieproduktionstechnik der Raumscheibe sowie die Labors und Werkstätten. Hier möchte er später auch einmal tätig sein, aber das ist noch Zukunftsmusik.

Ohne zu zögern, rennt Großnase die schiefe Ebene in die Tiefe hinab, denn bald wäre sowieso der Yoga- und der Bereich mit den Sportgeräten gekommen. Beide hat er schon immer versucht zu meiden. Joggen muss für die Fitness ausreichen, davon ist Großnase überzeugt.

Leider gibt es hier rund umlaufend nur diese glatten Wände und ein paar Fluchttüren, die er ohne Not nicht öffnen darf. Dies würde sofort vom Bordüberwachungssystem registriert werden und ein Missbrauch führt in seiner Altersklasse zu Einschränkungen im Spaßbereich.

Die Sensoren seines Sportcapes regeln sein Lauftraining so, dass er seine Muskulatur nicht überbeansprucht. Solange alle Dioden am Stoff grün leuchten, ist alles in Ordnung. Jetzt seufzt er, als eine Aufstiegsebene ins Mitteldeck zurück erscheint. Auch wenn die Trainingsanzeigen ihn zum Aufstieg ermuntern wollen, wird er dem nicht nachgeben. Er weiß, dass er bald eine der zwei Aufzugstüren erreicht. Mit dem Lift wird er wieder zum Lebensbereich der Menschen, dem Mitteldeck, empor fahren und dort weiterjoggen.

Oben angekommen, schließt er dann seine erste Runde und damit seine ersten rund 300 Meter, da die Raumscheibe einen Maximaldurchmesser von wenig mehr als 100 Metern, an der Außenhaut gemessen, aufweist.

Nach der dritten Runde und der Begegnung mit insgesamt siebzehn weiteren sportlich aktiven Personen biegt er schließlich wieder zu seinem Wohntrakt ab. Von Blauhaar ist nach wie vor nichts zu sehen. Neben der Doppelkabine der Zwillingsbrüder sind die kleinen Räume der achtzehn anderen Minderjährigen, doch auch hier ist kein Kind zu sehen. So hat Großnase wenigstens seine Ruhe, als er den Duschbereich betritt. Im Vorraum entledigt er sich des Trainingscapes und der Schuhe und hangelt sich an der Haltestange entlang zur Duschkabine. Als sich die Tür schließt und der Wasserstrom einsetzt, aalt er sich mehrfach geübt um seine Achse drehend im warmen strömenden Wasser.

Schon ebbt der angenehme und auch massierende Wasserstrom ab und der Trockenfön setzt ein. Als sich die Kabinentür öffnet, hangelt er sich wieder hinaus und lässt sich von der nächsten Umkleidekapsel seine gewohnte blauweiße Alltagskleidung überstülpen. Mit ganz normalen Schuhen findet er dank der magnetisierten Sohlen und durch die entsprechende Unterstützung durch die Kleidung wieder genug Halt, um sich gehend ohne Haltestange fortzubewegen. Jetzt wird es Zeit, dass er den gemeinschaftlichen Speisesaal aufsucht. Hierzu muss er auf kürzestem Weg an den Wohntrakten der Erwachsenen vorbeigehen, aber die dürften alle schon ihren gewerblichen Tagesdiensten nachgehen.

Als er den runden Speisesaal betreten will, meckert schon sein persönlicher Roboter hinter ihm: „Du bist zu spät, Großnase. Wir müssen das heutige Bildungsprogramm in zehn Minuten starten. Beeile dich mit dem Essen!“

„Jaja, sei ruhig, du nervst!“, zischt er den weißen schwebenden Kugelautomaten an, der darauf keine Reaktion zeigt.

Im Speisesaal ist tatsächlich kaum noch etwas los, lediglich zwei Kinder und Blauhaar sitzen hier. Aber auch sie sind bereits mit dem Essen fertig wie wohl alle Erwachsenen an Bord der Raumscheibe.

Als er wortlos neben seinem Zwillingsbruder Platz nimmt, fährt sofort ein Teller mit gemischtem Salat und Molekularsalami über das Förderband heran. Daneben steht ein großes Glas mit einem orangefarbenen Saft.

„Guten Morgen, Bruderherz!“, sagt Blauhaar nun und schüttelt den Kopf. „Träge wie immer, was?“

„Ich habe schon gejoggt, im Gegensatz zu dir!“, zischt er seinen Bruder wie vorhin seinen persönlichen Roboter an.

„Meinst du nicht, dass es dazu zu spät ist? Wenn wir morgen auf jenem Planeten die Puppen von anderen Raumscheiben treffen, wird es für dich zu spät sein. Deine Plauze kriegst du bis dahin nicht mehr weg. Schau!“ Blauhaar präsentiert seinen flachen Bauch und spannt den rechten Oberarmmuskel an. „Achtzehn volle Zentimeter Muskelmasse am Oberarm und mein Bauchumfang ist nun unter sechzig Zentimetern. Das ist Fitness.“

Großnase lacht nur gequält.

„So, ich gehe jetzt in die Bildungseinheit!“, ruft Blauhaar gutgelaunt und schon folgt ihm sein persönlicher Roboter.

Sein Zwillingsbruder schüttelt nur den Kopf und isst weiter.

„Du musst auch los, die Zeit wird knapp“, erinnert ihn sein persönlicher Roboter.

„Ich sagte bereits, dass du nervst!“, fährt er die weiße Kugel an und trinkt sein Glas fast schon zu hastig aus.

Als er die Bildungseinheit betritt, sitzen die anderen vierzehn Schüler schon an ihren halbkugelartigen Plätzen. Die jüngsten hier sind sechs Jahre und Großnase und Blauhaar gehören zu den ältesten. Eine Hupe ertönt und die Kugelschalen schließen sich ganz. Nun sitzt jeder Schüler in seiner eigenen Bildungskapsel.

„Bevor du mit irgendeinem Kram anfängst“, blockt Großnase gleich seinen persönlichen Roboter ab, „heute will ich kein Standardprogramm, sondern ich will mich auf morgen vorbereiten. Als Erstes will ich Input über unsere Reise vom Beginn von der… Wie hieß die große Kugel noch mal?“

„Das war die Erde“, antwortet sein Roboter. „Der Start von der Erde geschah vor 3142 Jahren...“

„Ich weiß, wir leben schließlich im Jahre 3142 n.Z.“

„Genau. Wir leben im Jahre 3142 neue Zeitrechnung. Zu jener Zeit starteten Millionen Raumscheiben in alle Richtungen ins All.“

„Warum mussten die Menschen die Erde verlassen?“, fragt Großnase mit großem Interesse, da er diese Informationen mit Sicherheit auch für morgen braucht.

„Die Erde war kaputt. Für die Menschen ist es egal, ob sie auf einem Raumschiff namens Erde durch das All reisen oder in Raumscheiben. Menschen brauchen zum Überleben keine Planeten mehr. Seitdem reisen die Raumscheiben durch das All und die Menschen treffen sich gelegentlich auf geeigneten Himmelskörpern.“

„Ja, ich weiß“, erinnert er sich auch leicht über sich verärgert, dass er das vergessen hat, denn dies ist schon Lernstoff in den vergangenen Jahren gewesen. „Die Menschen sahen damals doch so anders aus, so richtig klobig.“

„Sie waren massiger.“ Der Roboter erzeugt vor Großnase ein Bild. „So sah ein Mensch damals aus.“

„Ist das ein kleiner Kopf“, entgegnet der Jugendliche amüsiert. „Haben die damals auch schon ein Gehirn da drinnen gehabt?“

„Die Hirnmasse betrug schon beachtliche 98% der heute lebenden Menschen. Der Körperbau war damals nur deshalb massiver, da mehr Muskelmasse nötig war, um sich im Gravitationsfeld des Planeten Erde fortzubewegen. An Bord der Raumscheibe sind weniger Kräfte erforderlich. Mittels genetisch gesteuerten Gewebewachstums hat der moderne Mensch von heute genau die richtige Muskelmasse für das Leben an Bord. Hier sind zum Vergleich ein paar Statistiken.“

Während die entsprechenden Bilder aufleuchten, erzählt der Roboter weiter: „Im hier dargestellten Abbild sieht man, dass sich das Kopf-Körpergröße-Verhältnis deutlich ver ändert hat. Auf der Erde war dies 1:7, während das an Bord bekanntlich 1:2,5 ist. Auch die Körpermasse sank im Schnitt von 80 Kilogramm auf 30 und weniger.

Die durchschnittliche Körpergröße lag kurz vor dem Abflug auf der Erde bei einem Meter und neunzig Zentimetern, während heutige Erwachsene noch bis rund einen Meter und dreißig Zentimeter groß werden.

Auch gab es damals deutlich größere Körperbauunterschiede zwischen Männern und Frauen, während sich heute bekanntlich die Geschlechter nur noch durch die Gesichtszüge und Geschlechtsorgane unterscheiden.

Früher musste ein Mensch viel Nahrung aufnehmen, um den Körper zu versorgen, heute werden pro Mensch vielleicht noch zwanzig Prozent der Nahrungsmenge benötigt.

Leben unter Schwerkraft erfordert mehr Energie als das Leben in der Raumscheibe mit magnetischen Böden. Die Menschheit hat ihre Evolution in den letzten mehr als 3500 Jahren aktiv selbst gestaltet.“

„Hat diese körperliche Schrumpfkur der Menschheit wirklich etwas gebracht?“ Der Schüler klingt ziemlich ungläubig.

„Was heißt gebracht?“, antwortet sein persönlicher Roboter. „Das Leben funktioniert und der menschliche Körper ist den Anforderungen nach angemessen geschaffen. Außerdem wurden die Menschen auf der Erde zum Schluss im Schnitt 100 Jahre alt, heute erreichen sie durch alle Gegebenheiten auf den Raumscheiben ein zwei bis dreimal höheres Alter. Du musst wissen, dass auf der Erde sogar viele jüngere Menschen durch Unglücke und Wetterphänomene um ihr Leben gebracht wurden.“

„Wetter? Ich glaube, davon habe ich schon einmal gehört.“

„Ja, im Fach Klimakunde, als das Bordklima und dessen Aufrechterhaltung geschult wurde. Auf der Erde konnten die Menschen das Wetter nie beherrschen, Kälte, Hitze, Nässe, Trockenheit – all diese Phänomene haben seinerzeit Millionen Opfer gefordert.“ „Womit wurde die Erde eigentlich angetrieben?“, fragt Großnase weiter.

„Planeten haben keine Antriebe im Gegensatz zu den Raumscheiben. Planeten umkreisen Sterne und bewegen sich in deren Gravitationsfeld. Raumscheiben nutzen die dunkle Energie, um sich durch das All zu bewegen. Diese wird durch die Sammler in die Raumscheibentriebwerke gebracht und dort in kinetische Energie umgewandelt.“

„Dann sind Planeten also fest an ihre Sterne gebunden“, überlegt der Schüler. „Wohin fliegen wir eigentlich in unseren Raumscheiben?“

„Raumscheiben sind tatsächlich von den Sternen unabhängige Flugobjekte. Ein zentrales Ziel für Raumscheiben gibt es nicht, hier herrscht die Freiheit einer jeden Scheibenmannschaft vor. Diese Trennung in kleine Einheiten von 100 bis 200 Menschen hat sich als stabil erwiesen. Es sind nicht zu viele Menschen, um die Gewalt zu erzeugen, die es auf der Erde gab und es sind genügend viele Menschen, um eine moderne Raumscheibe zu bedienen. In geeigneten Abständen begegnen sich verschiedene Raumscheiben in verschiedenen Gebieten und tauschen ihre Erfahrungen direkt aus, die sie sonst nur sehr bedingt durch Funkkontakte austauschen können.“

„Kann ich tatsächlich bald in einer anderen Raumscheibe mitfliegen?“, fragt er nun.

„Das ist möglich, wenn entsprechende Verhandlungen der Raumscheibenführungskräfte dies befürworten. Hier gibt es feste intergalaktische Regeln.“

„Wie viele Raumscheiben sind da draußen im All eigentlich unterwegs?“

„Genau 299 792 458.“

„Welche Regeln gelten denn für alle Raumscheiben untereinander?“

„Das ist ein spezieller Bereich im Fach Gesellschaftskunde, was im nächsten Lehrjahr unterrichtet wird.“

„Geht es da auch um den nächsten Schritt in der Evolution der Menschheit?“, fragt Großnase, um die für einen Moment eingetretene kurze Pause zu beenden.

„Das ist ein sehr spezielles Thema. Waren früher die Menschen noch die Hauptakteure für alles sie Umgebende, sind die Menschen von heute fast nur noch Ideengeber und die Robotergenerationen setzen diese Ideen um. Die Menschen initiieren und die Roboter realisieren und organisieren die Ordnung in jeder Raumscheibe. Auch das Thema Evolutionswissenschaft der Zukunft ist ein Fach im nächsten Lehrjahr.“

„Immer im nächsten Jahr!“, schimpft Großnase. „Die interessanten Sachen erfahre ich immer erst später! Das ist schade.“ Er überlegt. „Worin liegen eigentlich heute die größten Probleme der Menschheit? Oder ist alles gut?“

„Ein großes Problem der aktuellen Menschheit ist, dass es seit vielen Generationen keinen Platz für Wachstum gibt. Die Raumscheibenzahl ist seit Generationen konstant. Es fehlt an Möglichkeiten, völlig neue Trends zu entwickeln. Aber positiv ist, dass es bisher keinen einzigen Verlust an Raumscheiben gibt und die Instandhaltung funktioniert.“

Großnase nickt. „Ich bin gespannt, wie die anderen Menschen in den anderen Raumscheiben so sind.“

„Ähnlich, es gibt keine großen Unterschiede“, entgegnet sein persönlicher Roboter. „Auch das ist ein Problem, denn es gibt keine neuen kreativen Schöpfungen mehr. Die Menschen sind in allen Raumscheiben im Wesentlichen völlig gleich.“

Großnase stellt immer weitere Fragen und sein Roboter bildet ihn. Zum Mittag lassen sich alle Schüler im Speisesaal eine grüne Mineraliensuppe schmecken, ehe es nach der Mittagsruhe in die Nachmittagsschule geht. Auch hier dreht sich alles nur um das bevorstehende Treffen der Raumscheiben auf dem anvisierten Zielplaneten.

Nach dem Abendessen, bestehend aus Obst- und Gemüsesalaten und energetisiertem Trinkwasser, kommt Großnases Lieblingstageszeit – der Abend. Er verabredet sich mit seinem Bruder Blauhaar in der Bar im zentralen Freizeitbereich. Seit ein paar Monaten dürfen sie endlich einmal in der Woche eine kleine Menge an alkoholischen Getränken zu sich nehmen und im Freizeitbereich sind die ihn oftmals nervenden aufpasserischen persönlichen Roboter nicht dabei. Er lässt sich auf einem der silbernen Sitzwürfel nieder und lässt sich vom Alkoholservierroboter einen leichten Schaumwein kredenzen. Wie immer ist dagegen Blauhaar vorsichtiger und lässt sich nur einen bunten Saft einschenken.

Das Licht im Freizeitbereich ist angenehm gedimmt und vielleicht zwei Dutzend Personen amüsieren sich hier, die Zwillinge sind deutlich die jüngsten anwesenden Personen. Einige der Erwachsenen spielen Karten oder Spiele auf elektronischen Schirmen oder basteln mit verschiedenen Materialien.

„Ich freue mich auf das Treffen morgen“, ruft Großnase so laut, dass es jeder versteht, und leert sein Glas in einem Zug. Die Zwillinge sind die Einzigen, die nur dasitzen, ohne etwas Weiteres zu tun. Vor allem Großnase genießt es und lässt die Beine so baumeln, dass die Fersen immer wieder gegen den Sitzwürfel trommeln. „Hoffentlich sind ein paar hübsche Mädels darunter.“

„Du denkst wieder nur an das Eine!“, lacht Blauhaar.

„Na, das letzte Treffen der Raumscheiben vor einem halben Jahr auf Raumbasis 650 war doch öde, aber diesmal machen wir richtig Party.“

„Würdet ihr mal leiser sein?“, schimpft plötzlich jemand von der Seite. Ein Senior sitzt mit einem rothaarigen Mann nicht weit von den beiden Jugendlichen entfernt. Es ist unschwer zu erkennen, dass sich diese beiden Personen in Denkaufgaben üben. „Wenn ihr Krach machen wollt, verschwindet! Ein wenig mehr Rücksichtnahme auf andere Menschen wäre wirklich mal wünschenswert.“

„Schon gut“, winkt Großnase ab und sieht seinen Bruder an. „Komm, wir gehen zu unseren Schlafkapseln, da können wir so laut sein, wie wir wollen!“

Die Zwillinge stehen auf und verlassen mit einem schlurfenden Gang den offenen Freizeitbereich der Raumscheibe.

„Die gammeln wirklich nur rum!“, flüstert der Rothaarige seinem älteren Gesprächspartner zu.

Als sich die Tür hinter Großnase und Blauhaar schließt, sagt der Ältere zu seinem Gesprächspartner: „Ich weiß nicht, was ich von dieser Jugend halten soll. Ich habe das Gefühl, dass sie immer weniger taugt. Und die sollen die Raumscheiben weiter durch das All steuern und optimieren.“ Er schüttelt den Kopf und blickt zu Boden.

© Thomas Gessert


 
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